H. Kanyar Becker (Hg.): Pionierin der Kinderzüge

Cover
Titel
Pionierin der Kinderzüge. Erinnerungen an Mathilde Paravicini (1875–1954)


Herausgeber
Kanyar Becker, Helena
Reihe
Publikationen der Universitätsbibliothek Basel
Erschienen
Basel 2017: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
151 S.
von
Susanne Businger, Institut für Kindheit, Jugend und Familie, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften

Lange Zeit standen Frauen, die sich während des Zweiten Weltkriegs zumeist unentgeltlich für Flüchtlinge engagiert hatten, nicht im Fokus der Geschichtsschreibung. Erst in jüngster Zeit näherten sich verschiedene Autorinnen und Autoren, darunter als eine der ersten Helena Kanyar Becker, diesem vergessenen Kapitel der Schweizer Geschichte an. Ihr neuestes Buch untersucht das Wirken der Baslerin Mathilde Paravicini (1875–1954), die als «Engel von Basel» Flüchtlinge im Ersten und Zweiten Weltkrieg betreute.

Mathilde Paravicini wurde am 9. Juni 1875 in eine Patrizierfamilie geboren. Ihr Vater besass Eisenwerke im jurassischen Lucelle und war als Kaufmann tätig. Während Mathilde Paravicinis Schulzeit wurde das Geschäft von schweren Verlusten getroffen und so lernte sie schon früh Not kennen, was prägend für ihr späteres Wirken war. Dies war auch ein Grund, weshalb alle fünf Töchter eine Ausbildung absolvierten, was für die damalige Zeit aussergewöhnlich war. Mathilde Paravicini erlernte das Schneiderhandwerk in Paris und gab ihr Wissen in Kursen an Schülerinnen weiter. Während des Ersten Weltkrieges betreute sie Flüchtlinge aus Nordfrankreich, zunächst in Schaffhausen, später in Basel. Ab 1917 holte Mathilde Paravicini kriegsbetroffene Kinder in sogenannten «Kinderzügen » zur Erholung in die Schweiz. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung setzte sie sich für das Schweizerische Hilfswerk für Emigrantenkinder (SHEK) ein und führte Erholungsaufenthalte für überwiegend jüdische Kinder aus Paris durch. 1940, als die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder (SAK) die Kinderzüge übernahm, wurden jüdische Kinder nach einem Entscheid der schweizerischen Fremdenpolizei von den Erholungsaufenthalten ausgeschlossen. Mathilde Paravicini holte nun besonders vom Krieg betroffene französische Kinder in die Schweiz, darunter Waisen und Halbwaisen, oder Kinder, deren Eltern in Gefängnissen oder Konzentrationslagern inhaftiert waren. 1942 wurden die Kinderzüge verboten. Die Nationalsozialisten besetzten die freie Zone in Frankreich und begannen mit den Deportationen von Jüdinnen und Juden, von Sinti und Roma und von weiteren vom Regime Verfolgten in die Vernichtungslager. In der Schweiz wurden die Grenzen geschlossen; «Flüchtlinge nur aus Rassegründen» waren nicht als verfolgte Menschen anerkannt. Erst im November 1944 konnten die Kinderzüge von Frankreich aus wieder fahren. Sehr eindrücklich ist der Text «Kinder kommen in die Schweiz», den Mathilde Paravicini 1944 verfasste. Es wird deutlich, dass Paravicini aus den relativ bescheidenen Anfängen der Kinderzüge einen Grossbetrieb aufgebaut hatte, der bis Kriegsende Tausende erholungsbedürftige Kinder in die Schweiz holte. Sie arbeitete gegen Kriegsende für die vom Bundesrat initiierte Schweizer Spende an die Kriegsgeschädigten und brachte bis 1948 erneut Kinder aus Europa zur Erholung. Auch abseits der Flüchtlingshilfe war Paravicini sehr engagiert. Die zeitlebens ledig gebliebene Frau amtete als erste Präsidentin in der Vereinigung für Frauenstimmrecht Basel und Umgebung. Sie war Vorsteherin des Bahnhofswerks der Freundinnen junger Mädchen, einer Vereinigung, welche junge Frauen betreute und ihnen Unterkunft bot, um sie vor der Prostitution zu schützen. Daneben sorgte sie für ihre erblindete Schwester Helene und war ihrer ganzen Familie sehr verbunden. Am 10. Juni 1954 starb Mathilde Paravicini im Alter von 79 Jahren in Basel.

Zitierweise:
Susanne Businger: Helena Kanyar Becker (Hg.): Pionierin der Kinderzüge. Erinnerungen an Mathilde Paravicini (1875–1954), Basel: Schwabe Verlag, 2017. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 2, 2019, S. 337-338.

Redaktion
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 2, 2019, S. 337-338.

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